Brief aus Quito #3

Hallo,
Ein gutes Neues Jahr noch!
Ich hoffe Du hattest ein schönes Jahr 2023, hast viele schöne Momente in Deinem Umfeld erlebt, das ein oder andere Neue erfahren und konntest während den Tagen zwischen den Jahren abgeschalten vom Wahnsinn dieser Welt und auch Kraft für 2024 sammeln.

Ich habe die Zeit zwischen den Jahren für diesen Brief genutzt.
Offensichtlich ist mein Konzept der 2-3 Briefe pro Jahr aus Quito im letzten Jahr nicht aufgegangen. Es ist nicht so, dass ich nicht 3-4 Briefanfänge in der (digitalen) Schublade hätte, aber aus verschiedensten Gründen (vor allem fehlende Zeit und Muse) habe ich dann doch keinen zum Abschluss gebracht…

Dafür nun dieser Brief zum Jahreswechsel: ein wenig zu berichten, wie es uns geht, was in diesem Jahr so alles passiert ist (und mich davon abgehalten hat zu schreiben…) und was uns gerade umtreibt und im nächsten Jahr sicherlich (weiter) beschäftigen wird ;-)

Wir hatten das Glück, dass sich im letzten Jahr vieles gefügt hat, wir hier gut angekommen sind und uns unser Umfeld so eingerichtet haben, dass wir uns zu Hause fühlen und nicht mehr jedes Gesicht in der Nachbarschaft zum ersten Mal sehen. Wir haben viele Freundschaften geknüpft und ein gutes Leben mit üblichen Höhen und auch Tiefen gehabt.

Es ist vieles im Fluss und es passieren immer neue Dinge: Ich habe angefangen in einem Permakulturprojekt mitzuarbeiten: Gärtnern und Organisationsentwicklung – eine sehr spannende Kombination. Außerdem hilft es auch sehr, 2-3 Tage in der Woche in einem großen “Klein”garten (in dem auf 1,5 ha immer Sommer ist, zu verbringen und die Welt draußen ein wenig in den Hintergrund rücken zu lassen ;-)


Die Kinder sind seit dem Sommer beide in der dt. Schule und genießen die gemeinsamen Schulbusfahrten; meine Partnerin hat ja Ende 2022 die Verantwortung für ein neues Projekt übernommen und dementsprechend viele Lernerfahrungen in einer für sie neuen Führungsrolle. K1 hat sein erstes Schuljahr erfolgreich beendet und genießt das Leben, das in diesem Alter noch so viele Freiheiten bietet.


Wir sind froh, dass wir es schaffen, eine gute Familiendynamik zu halten und dass sich die viele Energie, die wir in den letzten Jahren in die Erziehungsarbeit und -reflektion gesteckt haben, oft auszahlt. Den Alltag mit den Kindern zu gestalten erfordert immer noch sehr viel Energie und Langmut, aber auch da finden wir häufig eine gute Balance ohne alle Regeln aufzugeben.

Wir konnten in 2023 viel reisen und viele Orte rund um Quito kennenlernen und waren mit Opa und Oma auch das erste Mal auf Galapagos.
Jeder Wochenendausflug und jede Reise waren sehr besonders (und verdienen eigentlich eigene ausführliche Berichte), besonders eindrücklich waren die Besuche im Norden (Valle, Rio Intag, Cuicocha, Tumbabiro und der Paramó), im Amazonas, auf Galapagos und immer wieder in Mindo.

Hier will ich nun vor allem von unserer Sylvesterreise berichten, weil wir durch mind. vier verschiedene Klimazonen gekommen sind, viel überwältigende Natur und Landschaften gesehen haben und die Reiseeindrücke so frisch sind:

Von Quito (wir leben ja auf 2800 m ü. dem Meer) sind wir nach Südosten gefahren und haben einen ersten Halt im Nebelwald (südlich von Baeza; mit rd. 2000 Höhenmetern) gemacht. Dort sind wir durch die Wälder gestreift, haben einen Wasserfall entdeckt, sind mit dem Kanu gefahren und haben Baumriesen besucht.

Die Weiterfahrt nach Puyo, wo wir Utes Geburtstag im Regenwald auf 900 m gefeiert haben, wurde dann durch eine Brückensperrung unsanft verzögert. Die Brücke wird den halben Tag gebaut und die andere Tageshälfte mit Stahlplatten ausgelegt und für den Verkehr freigegeben. Durch zu viel Regen am Vormittag, wurde der Nachmittag zum Weiterbauen benötigt und die Brückenöffnung spontan von 14 auf 18 Uhr verschoben. Wir haben uns also erstmal einen netten Rastplatz gesucht für die 4 Stunden… Spannend ist, dass es keine Alternativstrecke nach Süden östlich der Anden gibt. Eine Straße, nicht 4 parallele Autobahnen ohne Geschwindigkeitsbegrenzung wie andernorts.
(Wer das Suchspiel spielen möchte: Finde eine Alternativstrecke von Baeza nach Tena mit vertretbarer zusätzlicher Reisezeit, wenn in Osayacu die Brücke über den Rio Jondachi (https://osm.org/go/NdTcrdr0M-) gesperrt ist. ;-)

Wir sind dann erst spätabends in Puyo angekommen, dafür aber mit spektakulärem Blick über den Regenwald aufgewacht.

Das Gästehaus steht an einem Hang mit Blick über riesiges Tal rd. 300 m unterhalb, das bis auf einen kleinen Weg nur mit Primärwald bedeckt ist. Es war wahnsinnig beeindruckend, mit welchem Panorama wir hier den Regenwald und das Waldklima über den Tag erleben konnten:
Zu beobachten, wie sich über Stunden immer mehr Wolken bilden, die nachmittags schon abregnen, was uns abends dann einen Bilderbuch-Sonnenuntergang beschert hat…

Wie vielfältig das Leben ist: Schmetterlinge, Vögel, Blattschneideameisen in freier Wildbahn, die Pflanzen, die Blüten, das Licht, wie sehr dieses ganze Leben an diesen Tagesrhythmus angepasst ist…
Wie viel Wasser schon dieses Stück Wald speichert, wie klein die menschlichen Maßstäbe im Vergleich zur Natur sind und wie sehr dieses ganze Waldsystem doch von Versteppung bedroht ist, weil nicht mehr genug Wasser aus den Bergen dazukommt…
Uns haben während unserer Zeit im Regenwald doch einige Fragen immer wieder beschäftigt.
Zur Krönung des Tages und nach ihrem Geburtstagsabendessensnachtisch durfte sich Ute dann über den spektakulären Aufgang eines großen Blutmondes in einer Hollywoodschaukel über dem Amazonas erfreuen.

Von Puyo ging es über die Passstraße und durch Baños einmal über die östliche Kordillere nach Salinas am Chimborazo und damit wieder ins Hochland auf rd. 3800 m. Dort haben wir Sylvester in einem tollen Haus mit Permakulturgarten und vielen Polylepsis-Bäumen verbracht, der auf einer Anhöhe über dem Ort liegt und von Klippen umgeben ist. Nachmittags mit den Kindern die Erfahrung gemacht, dass es im Hochland durchaus noch üblich ist (und bei viel Regen aufgrund der unbefestigten Straßen die einzige Option), viele Wege zu Fuß zurückzulegen. Trotz erheblicher Höhenunterschiede (der Einkauf im Dorf bedeutet 200 Höhenmeter runter und dann wieder hoch und man sollte tunlichst vermeiden das Geld zu vergessen… Merke ich mir jetzt!).
Für die Schulkinder hier natürlich der tollste Schulweg mit Höhlen am Weg, über Wiesen und mit Kletterpartien, wann immer man mag.

Abends dann bei Sonnenuntergang mit den Kindern aufs neue Jahr angestoßen und nach dem Abendessen ‘Dinner for One’ geschaut. Zum Neujahrsspaziergang sind wir dann in den Chimborazo Nationalpark gefahren und haben am ersten Refugio auf 4800 m eine Schneeballschlacht veranstaltet und das Gelände erkundet.
Zum Abschluss der Reise waren wir noch einen Tag in Riobamba, haben uns die Stadt und den Bahnhof angeschaut, auch wenn hier anders als noch vor 15 Jahren beim letzten Besuch kein Zug mehr fährt.

Ich bin immer wieder von der Natur und Biodiversität begeistert, die uns hier (noch) umgibt!
Alleine das Privileg zu haben, in einem Garten zu stehen und Schmetterline und Vögel in unmittelbarer Nähe beobachten und hören zu können, ist faszinierend. Wenn dann noch eine Aussicht mit Primärwäldern dazukommt, fehlt wenig ;-)
Es ist faszinierend, Eindrücke in so vielen Landschaften und Klimazonen sammeln zu können, die Anpassungsfähigkeit der Natur ist so beeindruckend, überall. Besonders die Wälder, egal ob im Amazonas oder im höher gelegenen Nebelwald, sind magische Orte, wie ich sie in Europa vielleicht nur aus Fontainbleau, Albanien oder Skandinavien kenne.
Eine Natur, wie wir sie in Europa durch das Abholzen fast aller Primärwälder schon seit Jahrhunderten nicht mehr kennen.
Willkommen im Anthrophozän…

Wir können uns sehr glücklich schätzen, 2023 ein so privilegiertes Leben gehabt zu haben. Wie oben angedeutet, schauen wir auch hier in und von Quito aus mit großer Sorge auf die Welt, denn dieses Jahr hatte ja durchaus einiges an Desillusionierungspotential:
Die sich weiter beschleunigende Klimakatastrophe und die Biodiversitätskrise, die Kriege und Konflikte und die sich rasant ausbreitende Demokratiekrise gehen auch an Ecuador nicht vorbei: nach einem Jahr mit viel zu viel Regen 2022, hat ein durch die Erderwärmung potenziertes El Niño 2023 viel zu wenig Regen mit vielen Waldbränden im August/September und regelmäßigen Stromabschaltungen im November/Dezember gebracht; im Präsidentschaftswahlkampf wurde der einzige wählbare und aussichtsreiche Kandidat erschossen (ein bekannter Investigativjournalist, der in Umfragen die drittmeisten Stimmen hatte) und die Sicherheitslage aufgrund von Bandenkriminalität und organisiertem Verbrechen verschlechtert sich kontinuierlich…
Erst in den letzten Wochen haben es zwei prominente Bandenchefs, die ihre Geschäfte teilweise seit Jahren aus dem Gefängnis heraus abwickeln mussten, geschafft, während Gefängnisrevolten spurlos zu verschwinden. Laut Presse haben sie sie einfach nicht mehr finden können – obwohl sie den Knast mit über 1000 PolizistInnen auf den Kopf gestellt haben…

Letzten Dienstag hat der neugewählte Präsident nun den Versuch gestartet, mittels landesweiten Ausnahmezustands, Militäreinsatz gegen 20 Banden aufgrund eines proklamierten “bewaffneten Konflikts im Inneren” und Ausgangssperre zwischen 23 und 5 Uhr, der desolaten Sicherheitssituation zu begegnen. Dennoch viel ändert sich nicht, insb. die Hafenstädte sind in der Hand der Banden und Narcos. Hier im Hochland und in Quito selbst merken wir nicht allzu viel von der angespannten Sicherheitslage, aber da auch die Schulen seit letztem Mittwoch geschlossen sind, fühlt man sich doch schneller in die Covid-Lockdown-Zeit zurückversetzt als einem lieb sein kann…

Wie aus Kolumbien und vielen anderen Ländern gut bekannt, ist der Kampf gegen organisierte Kriminalität und Narcos lang und mühsam. Erfolgsgarantie gibt es nicht, wir werden sehen müssen, wie es dann hier weiter geht in den nächsten Monaten und Jahren. Wir hoffen, dass es zu sowenig Schulschließungen kommt, wie möglich ;-)

Insgesamt höre ich allerdings nur wenige Stimmen, die die aktuelle Strategie als wirklich erfolgsversprechend erachten, ohne Verbesserung der Lebensstandards und Investition in Soziales bringen die Dekrete, die kurzfristig das Militär zu aktivieren, wenig. Die Frage ist letztendlich, wer den längeren Atem hat in diesem Kräftemessen…

Ich habe das Gefühl, dass wir (als Zivilisation) nicht (mehr) in einer Verfassung sind, die Paradigmenwechsel vollziehen zu können, die doch notwendig sind, um den Krisen und Problemen unserer Zeit nachhaltig zu begegnen.

Wir betonen immerzu das Trennende, das Alternativlose und stellen den Menschen immer noch in den Mittelpunkt einer Welt, die nicht für den Menschen gemacht wurde – ist es nicht offensichtlich, wer die Macht hat und dass es keine Bestrebungen gibt, irgendwas zu ändern? Wie wollen wir es überleben?

Ein wichtiger Satz, den ich kürzlich im Dissens-Podcast zum Thema “Wie solidarische Politik im Klimakollaps aussehen kann?” gehört habe, ist, dass wir den Versuch machen und uns die Motivation erhalten müssen, unsere Welt/unseren Bezugsrahmen positiv gestalten, egal ob es 2 oder 3 Grad Erderwärmung werden mit all den dystopischen Konsequenzen, die das mit sich bringt.
Es ist nicht leicht, die Erkenntnis anzunehmen und sich nicht mehr der Illusion hinzugeben, dass “es schon wird” und “wir die 1,5 Grad noch irgendwie schaffen” und es noch gelten würde etwas abzuwenden, was aber schon längst da ist.
Wir sind mittendrin und werden auch das Kollabieren von wichtigen Kippelementen erleben. Es werden stürmische Zeiten, wenn ich mir den Wetterbericht und die Sondersendungen zu Naturkatastrophen so anschaue. Wie erklären wir´s den Kindern?

Nun gut, auch das soll nicht zu viel Platz in diesem Brief einnehmen, die politische Debatte sowieso lieber im persönlichen Dialog, als jetzt weiter Weltuntergangshoffnungen hier auszubreiten.
Wie geschrieben, schaffen wir es noch ganz gut, uns mit dem Leben hier zu arrangieren und die ganzen Haupt- und Nebenwidersprüche, die uns anspringen, auszuhalten. Die Erfahrung mit Permakultur und nachhaltigen Wertschöpfungsketten, sowie die Einsicht, dass noch an so vielen Stellen mehr was bewegt werden sollte, wenn wir auf das Verbindende schauen, das Gemeinschaftliche und Solidarische in den Mittelpunkt stellen.

Euch allen ein gutes, produktives und möglichst sorgenfreies Jahr 2024!
Um es mit Douglas Adams zu sagen: Es ist “sehr unwahrscheinlich” dass wir auf “diesem völlig unbedeutendem blau-grünen Planeten am unmodernen Ende eines recht unbedeutenden Nebenarms der Milchstraße” das Leben genießen dürfen.
Macht was draus und lasst uns hoffen, dass die Bilanz Ende 2024 positiver ist als die, die wir für 2023 ziehen müssen.

Bei uns bleibt es sicher spannend und turbulent. Wir überlegen z.B. gerade, wie wir unsere Hausparty Anfang Februar mit der nächtlichen Ausgangssperre zusammen bekommen ;-)

Viele Grüße aus dem Land der Vulkane